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Caramel architekten

Home Made - Biennale Venedig 2016

Österreichischer Pavillon
Photo: Paul Kranzler
Photo: Paul Kranzler
Ort
Venedig
Gebäudekategorie
Sonstiges
Bauvorhaben
Temporaer
Jahr der Fertigstellung
2016
Architektenpreis
AIT award 2018 / special mention best architects 18 award 2018 / winner architizer a+ award 2017 / special mention a'design award 2017 / bronze s.arch award 2017 / 1.platz small design the plan award 2017 2017 / finalist
Ein großes Werbetransparent an der dem Verkehr zugewandten Fassade eines wesenlosen Gebäudes aus den 1990er-Jahren preist die Immobilie an: „3.700 Quadratmeter Bürofläche zu mieten“. Darunter Logo und Telefonnummer des Maklerbüros, der Verkehr rauscht vorbei. Wer weiß, wie lang dieses Haus – Objekt keiner Begierde – schon leer steht. Es scheint eine jener schwer vermittelbaren Büroimmobilien in der Stadt zu sein, über deren tatsächliche Anzahl nur vage Angaben kursieren. Die offizielle Leerstandsrate für Büroimmobilien in Wien liegt derzeit bei 6,6 Prozent. Gebäude wie dieses – veraltete Infrastruktur, keine Toplage – haben es am gesättigten Immobilienmarkt schwer. Aber steht das Haus wirklich leer? Einige Fenster sind gekippt, einige geöffnet, Wäsche hängt über der Brüstung, durch die Scheibe im vierten Stock blitzt ein Stück Stoff – ein goldener Vorhang?

Stopover Residences/Zwischennutzung Notquartier
 Seit Tagen, Wochen, Monaten wohnen in den ehemaligen Büroräumen rund 280 Flüchtlinge. Mehrheitlich sind es Familien aus Syrien, Irak und Afghanistan, die in diesem Notquartier der Caritas auf ihren Asylbescheid und auf Zuweisung in eine dauerhafte Unterkunft warten. Die meisten der BewohnerInnen sind noch nicht in der Grundversorgung; sie haben ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen, was vor ihnen liegt, ist ungewiss. Für unbestimmte Zeit ist dieses Gebäude eine weitere Zwischenstation, ein „Camp“, wie sie es nennen. Das Haus war in seiner räumlichen Konfiguration für die Unterbringung von 150 Personen vorgesehen – „aber was sollen wir machen, wenn draußen ein weiterer Bus voller Menschen steht“, verweist die Caritas zu Recht auf die Notwendigkeit des Handelns in einer Situation, in der die Alternative Obdachlosigkeit gewesen wäre. Wie in einem Transitlager oder einem Erstaufnahmezentrum werden in einem Notquartier mittellosen Schutzsuchenden Schlafplätze und die Versorgung mit dem Lebenswichtigsten – Nahrung, Bekleidung, medizinische Betreuung – geboten. Doch ist allen vorsorglichen Maßnahmen, die getroffen werden, die zeitliche Beschränkung von vornherein eingeschrieben. Die Befristung, die für die BewohnerInnen eine weitere Ungewissheit auf ihrem Weg des Ankommens bedeutet, hält auch die Ressource Raum in Schwebe. Die Caritas hat mit dem Eigentümer des Hauses einen Zwischennutzungsvertrag abgeschlossen, der Ende April 2016 ausgelaufen und nun vorerst um einen Monat verlängert worden ist. Da die Büroimmobilie in der Zwischennutzungsphase weiterhin auf dem Markt bleibt, musste der Bestand, vom Umbau der Duschanlagen im Erdgeschoss abgesehen, weitgehend unangetastet bleiben. Das hatte zur Folge, dass sich in den ehemaligen Büroräumen dicht gedrängt Bett an Bett reihte.

A Village Within the House
Die peripher-stadtnahe Lage des Gebäudes ist aus Sicht des Betreibers, der allfälligen Ressentiments von AnrainerInnen vorsorglich ausweicht, ein günstiger Standort für ein Flüchtlingsquartier: „Hier fühlt sich niemand gestört.“ Es ist ein offenes Haus, jeder kann ein- und ausgehen, eine informelle An- oder Abmeldung genügt, niemand dreht nachts das Licht an und vergewissert sich, dass alle schlafen. Keine Tür ist versperrbar, nicht einmal die Spinde, die in den Büros bereits vorhanden waren und nun teilweise als Raumteiler dienen. Im Eingangsbereich mit der „Portierloge“ der Caritas werden BewohnerInnen, Neuankömmlinge, freiwillige HelferInnen und BesucherInnen von Aushangblättern in Arabisch, Englisch und Deutsch sowie den Artikeln 1, 3 und 4 der „Universal Declaration of Human Rights“ im Empfang genommen. Überall Spuren des improvisierten Lebens, Tagesaktualitäten, Hausordnungsregeln. Ein Piktogramm mit der Information, dass im ganzen Haus Alkoholverbot herrscht, darunter die Aufforderung, alle Mahlzeiten im Speiseraum im Erdgeschoss und nicht in den Schlafräumen einzunehmen. „Children must come down to eat.“ Daneben Hinweise auf Kurse oder Terminankündigungen sowie die „Cleaning List“, die den Küchendienst zimmerweise regelt. Die Wohngemeinschaft von der Größe eines Dorfs verteilt sich in dem im Grundriss triangulären Gebäude über viereinhalb Geschosse mit je siebzig Personen. Die rund um den zentralen Erschließungskern angeordneten WC-Gruppen in den Stockwerken sind ausreichend, die Duschanlagen im Erdgeschoss ermöglichen Körperhygiene nur im Schichtbetrieb. Die ehemaligen Kaffeeküchen in den Erschließungsgängen sind aus rechtlichen Gründen stillgelegt, hier hängt auf Lattenrosten Wäsche zum Trocknen. Was am meisten fehlt, ist Privatsphäre. Einen Ort für sich hat hier niemand.

Basic Needs
Die Sicherung der Privatsphäre – die Markierung eines Bereichs, in dem ein Mensch unbehelligt von äußeren Einflüssen für sich sein kann – war für Caramel Architekten das erste und wichtigste Thema ihrer Intervention, deren zeitliche Begrenzung Voraussetzung, aber nicht Hindernis für weiterführende Überlegungen war. Die in der Vorbereitungsphase im Architektur-Biennale-Team für eine ganz andere, mittelfristig nutzbare Immobilie angedachten Maßnahmen wie etwa die Durchmischung mit anderen BewohnerInnengruppen werden in einem überbelegten Notquartier zwar vorübergehend von der Macht des Faktischen verdrängt, bleiben aber zentraler Bestandteil künftiger Szenarien, die das Gemeinschaftsleben im Haus mit weiteren Handlungsanreizen positiv unterstützen sollen. Um das temporäre Zusammenleben in einer Hausgemeinschaft dieser Größenordnung möglichst rasch und effektiv zu verbessern, konzentrierten sich die Architekten zunächst auf eine klar umrissene Sofortmaßnahme, der eine zweifache Fragestellung zugrunde liegt: 1. Wie kann mit geringsten Mitteln und in kürzester Zeit Privatheit geschaffen werden, ohne in die Substanz des Gebäudes einzugreifen? 2. Wie lässt sich die Durchlässigkeit des Hauses nach außen erhöhen, um der Isolation der Wohngemeinschaft entgegenzuwirken und Öffentlichkeit zu generieren? Die Sicherung der Privatsphäre durch geeignete Trennvorrichtungen und die Öffnung der Gemeinschaft durch Verbindungsgelenke nach außen wurden nicht als isolierte Themen, sondern als Facetten einer Aufgabenstellung gesehen. Caramel Architekten haben bereits in mehreren Projekten komplexe Anforderungen mit leichtfüßigem Pragmatismus gemeistert, so etwa bei den Besucherstegen der VOEST, beim Kulturhauptstadt- Büro am Linzer Hauptplatz, beim Science Park Linz, bei diversen Design- und Kunstobjekten sowie bei einigen Wohnprojekten mit überschaubarem Budget. „Zeitdruck und Ressourcenknappheit kann man auch als Chance begreifen“, sagen sie. „In vielen Fällen ist es einfach unpassend, komplizierte Designdetails zu entwickeln.“ Caramel Architekten arbeiten gerne mit modularen Strukturen und Ready-made-Artefakten, um unterschiedliche Anforderungen in griffige konzeptuelle Tools zu übersetzen. Auch in diesem Fall war es für sie ein logischer Schritt, ein System aus handelsüblichen Elementen zu entwickeln, das kostengünstig, einfach und vielseitig ist und die wesentliche Zielsetzung fokussiert.